9. Der 103. Psalm


Auff die Weise deß 100.

[178] Ihr Volcker auff der Erden all.


Heb hoch deß Herren Herrligkeit,

O meine Seele, weit und breit,

Es preise Muth und Sinn in mir

Deß heil'gen Namens grosse Zier.


O meine Seele, weit und breit,

Heb hoch deß Herren Herrligkeit;

Vergiß nicht seiner Gnadenthat

Und was er offt erwiesen hat.


Der ohn Entgeltung dir vergibt

Die Schuld, darmit du ihn betrübt,

Verschaffet deinem Hertzen Ruh

Und heilet seine Schwachheit zu.


Der dich errettet auß Gefahr

Und nimpt deß armen Lebens war,

Bekrönt dich reichlich jederzeit

Mit Langmut, Huld und Gütigkeit,


Der mehr von Gütern dir beschert,

Als dein Mund darff und du begehrt,

Auch dir stets neue Jugend bringt,

Als wie ein Adler sich verjüngt.


Der Herr verschafft Gerechtigkeit

Und Recht ohn allem Unterscheid

Setzt das gedruckte Volck in Ruh

Und spricht ihm selbst die Sache zu.


Er hat dem Moses seine Bahn

Und rechte Wege kundt gethan,

Hat seiner grossen Wercke Pracht

Israels Kinder klar gemacht.


Er ist es, der Genad erzeigt,

Der zum Erbarmen hoch geneigt,

Der langsamb Haß und Eyfer hegt

Und eylends grosse Güte trägt.


Zwar Ursach hat er gar zu wol,

Doch ist er Grimmes nicht so voll

Und wird nicht zancken jederzeit,

Noch zornig seyn in Ewigkeit.


Er schickt nach unsrer Sünden Zahl

Nicht auch die Straffen allzumal;

Schaut nicht, was unsre Missethat

Für harten Lohn verdienet hat.


Die so in seinen Furchten gehn

Sehn seine Güte höher stehn,

Als hoch deß schönen Himmels Zelt

Die Stelle von der Erden helt.


So weit als sich der Sonnen Bahn

Von Ost und West erstrecken kan,

So weit auch setzt er auß Gedult

Von uns der schweren Sünden Schuld.


Wie sich ein Vatter-Hertze regt

Und Langmuth mit den Kindern tregt,

So auch erbarmt er derer sich

Die ihn stets fürchten inniglich.


Dann diß wohnt ihm genugsamb bey,

Was unser Zeug und Ursprung sey,

Er weiß und siehet uns allein

Geringen Staub und Asche seyn.
[178]

Deß Menschen Leben wächst an Zier

So schwach und zart als Graß herfür,

Ergrünet auch mit voller Pracht

Wie eine Blum im Felde lacht.


Ihr Safft wird welck und sie verbleicht

Wann sie ein kleiner Wind bestreicht;

Die Wissenschafft wohnt keinem bey,

Wo sie zuvor gestanden sey.


Des Herren Gnad ist sonder Ziel

Ob der Schar die ihn fürchten will,

Er pflantzet die Gerechtigkeit

Auff Kindeskind mit langer Zeit.


Ich meine derer Kindeskind,

Die seines Bundes Hüter sind

Und nemen sein Gebott so ein,

Desselben Thäter auch zu seyn.


Er hat ihm fest und unverletzt

Im Himmel seinen Thron gesetzt,

Sein Reich erstreckt sich umb und an

Auff alles, was man finden kan.


Ihr Engel lobt deß Herren Macht,

Ihr Helden, die ihr vor ihm wacht

Und sein Gebott thut, daß sein Wort

Erklingen mag durch alles Ort.


Erhebt den Herren weit und breit

Die ihr sein Heer und Diener seyd

Und richtet fleissig in die That

So viel er euch befohlen hat.


Ihr, seine Wercke, lobet ihn

So weit sich seine Gräntzen ziehn;

Brich, meine Seel, auch du hervor,

Und heb ihn ewiglich empor.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 178-179.
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