Das Auge des Blinden

[207] Durch das Marktgedräng von Namur

Stelzt ein armer narb'ger Krüppel.

»Leute, bringt mich zu Don Juan!«

»Schweigst du wohl! Da ist Don Juan!«


»Schweigst du wohl, blick auf! da ist er!«

In des Volkes Gasse reitet

Ein Gespenst am hellen Tage:

Don Juan der Österreicher –


Don Juan der Österreicher,

Der im Wein das Gift getrunken

König Philipps, seines Bruders,

Und Don Juan weiß den Mörder.


Seinen Mörder kennt Don Juan,

Auch den armen Krüppel kennt er,

Der den Bügel ihm betastet,

Der die Hand ihm deckt mit Küssen –


Der ihm deckt die Hand mit Küssen:

»Bin zerfetzt wie eine Fahne!

Wohne jetzt in Barcelona

Braves Volk, bei meiner Ehre!


Braves Volk! es speist und tränkt mich:

›Alter, leere dieses Glas mir!‹

›Alter, kanntest du Don Juan?‹

›Sprich uns immer von Don Juan!‹


Immer sprech ich von Don Juan!

In den Schenken, an dem Hafen

Gab ich tausendmal zum besten

Bei Lepanto, die Viktorie!
[207]

Die Viktorie von Lepanto

Gab ich tausendmal zum besten...

Hergestelzt bin ich nach Flandern

Zu dem Abgott meines Lebens!


Helle Freude meines Lebens!

Sohn des Kaisers! Kind des Glückes!

Deines Volkes Held und Liebling!

Ruhmgekrönter junger Feldherr!


Junger Feldherr mit dem Lorbeer

In den goldnen Ringelhaaren,

Mit dem Himmel in den Augen,

Sonnig wie ein Engel Gottes!


Eia, schöner Engel Gottes!...«

Durch die Menge, die des Todes

Bild betrachtet, geht ein Schauder.

Juan, der gespenstig bleiche,


Juan mit des Grabes Antlitz

Sucht erstaunt das Aug des Krüppels –

Ist es trunken? Loht's im Wahnsinn?

Es ist leer. Es ist erloschen!


Ist dem Tageslicht erloschen.

Don Juans zerstörte Jugend

Blüht in eines Blinden Auge

Fort in unversehrter Schönheit.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 207-208.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

230 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon