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Die rote Hanne, oder das Weib des Wilddiebes

[253] Den Säugling an der Brust, den zweiten

Der Knaben auf dem Rücken, führt

Sie an der Hand den Erstgebornen,

Der fast entkleidet, barfuß friert.

Den Vater haben sie gefangen,

Er kühlt im Kerker seinen Mut;

Sei Gott du mit der roten Hanne!

Der Wilddieb sitzt in sichrer Hut.


Ich sah sie oft in bessern Tagen,

Schulmeisters liebes Töchterlein;

Sie spann und sang und las und nähte,

Ein herzig Kind, und schmuck und fein;[253]

Beim Sonntagstanz im Kreis der Linden,

Wie war sie froh und wohlgemut!

Sei Gott du mit der roten Hanne!

Der Wilddieb sitzt in sichrer Hut.


Ein junger, hübscher, reicher Pächter

Versprach ihr einst ein beßres Glück;

Ihr rotes Haar, das ward verspottet,

Der reiche Freier trat zurück;

Es kamen andre, gingen wieder;

Sie hatte ja kein Heiratsgut.

Sei Gott du mit der roten Hanne!

Der Wilddieb sitzt in sichrer Hut.


Ein Taugenichts war schnell entschlossen:

Ich nehme dich, blond oder rot;

Drei Büchsen hab ich, weiß die Schliche,

Der Förster macht mir keine Not;

Den Schwarzrock will ich auch bezahlen,

Des Sprüchlein uns zusammentut;

Sei Gott du mit der roten Hanne!

Der Wilddieb sitzt in sichrer Hut.


Sie sprach nicht nein, mit sanfter Lockung

Gebot Natur in ihrer Brust,

Und drei Mal ward allein im Walde

Sie Mutter unter bittrer Lust;

Die Kinder treiben und gedeihen,

Ein blühend frisch gesundes Blut;

Sei Gott du mit der roten Hanne!

Der Wilddieb sitzt in sichrer Hut.


Des treuen Weibes nächt'gen Jammer

Erhellet noch ein milder Schein;

Sie lächelt: ihre Kleinen werden

Schwarzlockig wie der Vater sein;

Sie lächelt, ach! aus ihrem Lächeln

Schöpft der Gefangne frischen Mut;

Sei Gott du mit der roten Hanne!

Der Wilddieb sitzt in sichrer Hut.
[254]

Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 253-255.
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